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"HR"

Thema von Gastkurator Raimundas Malašauskas

„Ich will nie mehr (. . .) nur Bücher lesen, sondern Menschen“ schrieb Hermann Rorschach vor rund hundert Jahren. Als Sohn eines Schweizer Zeichenlehrers, malte und zeichnete er sehr ungewöhnlich. Doch wurde er letztlich zu einem Vater der Psychodiagnostik, einer Methode in der Psychiatrie, die auf Experimenten zur Wahrnehmung basiert.
Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft erwies sich im Falle Rorschachs als ein aussergewöhnliches Unterfangen, das in vielfachen Schulen, Kontroversen, Methoden, Karrieren und Lebenswegen mündete. Sie entstammen alle derselben Quelle: den zehn Tintenkleckszeichnungen. Rorschach hinterliess jedoch keine ausgearbeitete Theorie dazu. (Das vollständige Set der Tintenkleckszeichnungen wird heute im Hermann Rorschach-Archiv im Medizinhistorischen Institut der Universität Bern aufbewahrt)

Was zur Enträtselung des Charakters einer Person beitragen sollte, entwickelte eine Eigendynamik, wurde zu einem Synonym für Ambivalenz und Undefinierbares. Nicht jedes Kunstwerk geht soweit.

Nach dem Wissenschaftshistoriker Peter Galison schärfte die Anwendung von Rorschachs Methode das „Moderne Denken“, indem sie die Welt als Projektionsfläche behandelte, auf welche die Leute Dinge projizieren, so wie ein Diaprojektor lesbare Bilder auf die Wand projiziert. Eigentlich kreierte der psychodiagnostische Test durch seine Anwendung gar sein eigenes Subjekt, so wie dies jeder systematisch angewandte Test auch tut. Die sog. „unfertigen Rahmen“, die man mit Wahrnehmungen und Assoziationen komplettieren soll, haben die Werbung und die Poesie geprägt. Als „Raum der Imagination“ werden die „Leerstellen“ zuweilen bezeichnet. Grundsätzlich wird unser soziales Verhalten durch Vorstellungen von rationalen Zusammenhängen, System-Management und Hypervisualisierung bestimmt. Ob wir wollen oder nicht gehört es zur alltäglichen Routine für die meisten unter uns, Leere zu füllen oder Kästchen anzukreuzen.

Während die Psychologie durch Neuro-Management ersetzt wird und die Hybrid-Wissenschaften sich weiterem Unbekannten öffnet, tauchen neue Theorien und neue Charakteren auf. Letztere schliessen sogar die Schaufensterpuppen mit ein. Diese treten in drei Stilen auf: realistisch, abstrakt und kopflos.
Weitere Fragen folgen: Wie wäre es, den Tintenklecks als ein Porträt der Welt zu definieren statt als das Porträt einer Person?
Was ist der Beitrag der Kunst in einem psycho-therapeutischen Projekt im Bereich des Neuro-Managements. Bedeutet Kopflosigkeit, dass sich die Hirnkapazitäten ausserhalb unserer Körper verbreiten?
Worin liegt die Kraft der Sprache, die ihre eigenen Auswirkungen produziert, indem sie neue Wörter erfindet, Neologismen und Kombinationen, die vielen Ordnungen gleichzeitig angehören? Könnte diese Kraft es uns erleichtern, neue Wege für die Welt-Erfahrung zu finden?

Heutzutage ist es offensichtlich, dass wir als „Leser von Menschen“ agieren, aber auch als „Schreiber von uns selbst und von anderen“. Die eigene Gesellschaftsfähigkeit zu kultivieren gehört zu unserer täglichen Ästhetik und bewussten Praxis. In welches Bezugssystem, das grösser ist als das soziale, sollen wir uns einschreiben, da es doch so viele gibt?